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TEXTUR
 

Die Textur von Nahrungsmitteln

Auch im Westen spricht man heutzutage von der »Textur«, der Beschaffenheit von Zutaten. Aber besonders in der Chinesischen Küche kommt ihr eine ganz spezielle Bedeutung zu. Dafür gibt es Gründe: Ein chinesisches Menü besteht immer aus vielen verschiedenen Gerichten, die man entweder alle zugleich aufträgt (zu Hause) oder nacheinander serviert (bei einem festlichen Bankett); da ist es besonders wichtig, daß sich Gerichte von unterschiedlicher Struktur abwechseln und Kontraste bilden. Nur während eines chinesischen Essens ist es möglich, zwei oder drei Suppen serviert zu bekommen, zwei bis drei Schmorgerichte,
Gedünstetes und Gedämpftes, verschiedene suppenartige Speisen, drei, vier oder sogar sechs Pfannengerichte (davon ein oder zwei »trockene« und im Kontrast dazu ein »sauciges«) und eine ganze Reihe kalter Vorspeisen. Vielleicht gibt es obendrein noch zwei oder drei Süßspeisen — darunter möglicherweise eine süße Suppe.

Viele wundern sich, warum die Chinesen so gerne süße Suppen essen. Ganz einfach: Nach einer Speisenfolge von einem halben Dutzend und mehr verschiedenster sehr würziger Gerichte braucht man einfach eine kühle Erfrischung, die Zunge und Geschmacksnerven neu belebt und die in Geschmack und Textur vollkommen anders ist als alles, was man zuvor bekommen hat.

Pikante Suppen indessen reicht man während des Essens, nach den ersten trockenen pfannengerührten oder ausgebackenen Gerichten, um all die Leckerbissen in den Magen hinunterzuspülen, wie man das im Westen mit Tafelwasser tut.

Dieselbe Aufgabe haben alle Speisen, die eintopfähn-lich sind - zum Beispiel Gerichte, die lange bei milder Hitze geköchelt oder gedämpft werden, mit butterzartem Fleisch oder Geflügel in glasklarer Brühe zwischen ein paar erlesenen Gemüsen. Hierbei liegt der
besondere Reiz in der Klarheit und Reinheit, mit der die Zutaten geschmacklich und optisch hervortreten. Solche Gerichte bilden einen angenehmen Kontrast zu den pfannengerührten Speisen, die den Hauptanteil aller Gerichte in der Chinesischen Küche ausmachen.

Innerhalb der pfannengerührten Gerichte entstehen Kontraste durch die unterschiedliche Textur von Haupt- und Nebenzutaten und durch die verschiedenen Arten, sie zu schneiden oder zu formen — man schneidet in Würfel, streichholzgroße Streifen, hauchfeine Stifte, läßt sie in größeren Stücken oder formt kleine Bällchen daraus (wie für ausgebackene Shrimp- oder Fleischbällchen).

Nach einem Gericht mit viel Sauce sollte stets eines ohne Sauce folgen (wir nennen das Gan Shao). Geschmack und Struktur dieser beiden Gerichte sind vollkommen unterschiedlich: Das saucige Gericht ist sanft und weich und schmilzt auf der Zunge; das andere ist meistens scharf, würzig und knusprig und muß viel länger gekaut werden, bevor man es herunterschlucken kann. Beide Speisen passen übrigens vorzüglich zu Wein oder mildem, einfach gekochtem Reis.

Was man außerdem sehr gut nach Lsu reichen kann, sind würzige knusprige Speisen wie zum Beispiel knusprige wohlriechende Ente oder Die vier großen Knusprigen, Gerichte, die schön kroß und aromatisch sind, um sich gegen die Sanftheit eines Lsu-Gerichts abzusetzen.

Oft serviert man Gewürfeltes, wie beispielsweise Kung-Po-Hühnchen (ein scharfes, rosarotes Gericht aus kleingewürfelter Hühnerbrust) nach Rindfleischstreifen mit grünem Paprika. Dabei kontrastieren einmal die verschiedenen Geschmackskomponenten, und zum andern können sich die Augen an den gegensätzlichen Farben und Formen weiden. Es gibt noch weitere weiche oder dickflüssige chinesische Gerichte, zum Beispiel Fließendes Eigelb (Liu Huan T'sai aus Peking) oder Würziger Sesam-Bohnenquark (Ma Po Dou-Fu' aus Szechuan), die wir sehr gerne zum Reis essen. Dabei handelt es sich um heiße cremige oder breiige Speisen, die wie delikate »Lava« in den Reis fließen.

Glasnudeln (meist aus Erbsmehl) haben eine ganz eigene Textur. Einer ihrer größten Vorzüge: Sie können sich mit bis zu viermal mehr Sauce vollsaugen, als ihr eigenes Gewicht ausmacht, wenn man sie mit Fleisch zusammen gart. Dieses saucige Nudelgericht, das nie zu weich oder gar matschig gerät, ganz gleich, wie lange man es kocht, hat eine ganz eigene Konsistenz, und ich nenne es oft Chinas »feste Sauce«. Man verarbeitet Glasnudeln hauptsächlich mit Gemüsen, die in schmale Streifen geschnitten wurden: Eine solche Zusammenstellung ist sehr reizvoll und eine der tragenden Säulen der vegetarischen Küche Chinas. Knackigkeit ist ein weiterer wichtiger Faktor im chinesischen Essen. Ich habe den Verdacht, daß Bambussprossen fast ausschließlich ihrer knackigen Konsistenz wegen so häufig Verwendung in der Chinesischen Küche finden, denn sie haben kaum einen ausgeprägten Geschmack. Dennoch sind sie in ihrer knackigen Frische in Suppen, Schmorgerichten oder gebratenen Speisen unersetzlich - sie behalten ihren besonderen Reiz einfach immer; deshalb verarbeitet man sie auch so gerne in allen Gerichten mit vielen unterschiedlichen Zutaten.

Natürliche Knackigkeit ist das erklärte Ziel vieler chinesischer Gerichte, darum verwendet man gerne rohe Gemüse wie zum Beispiel Gurken, Frühlingszwiebeln, Möhren, Rübchen oder Stangensellerie. Man schneidet sie entweder in streichholzfeine Streifen oder in kleine Würfel, blanchiert sie kurz oder mischt sie als begleitende Zutaten unter Pfannengerührtes. Ein Beispiel dafür ist das sehr bekannte Gericht aus dem Norden Chinas: Raschgebratene feine Lammfleischscheiben mit Frühlingszwiebeln, das vom einfachen Kuli bis zum Kaiser allseits beliebt war. Hier werden die rohen Frühlingszwiebeln nur ganz zum Schluß mit Lammfleisch und Sauce vermengt.

Das Prinzip der unterschiedlichen Textur im Essen liegt nicht nur darin, daß jeweils verschiedengeartete Gerichte einander abwechseln sollten, sondern im gleichzeitigen Bemühen, solche Verschiedenheiten bereits in einem einzigen Gericht zu Tage treten zu lassen. Dank der chinesischen Sitte, stets die unterschiedlichsten Zutaten miteinander zu verarbeiten, hat der Strukturkontrast eine Bedeutung und ein Gewicht wie in keiner anderen Küche der Welt. Nehmen Sie zum Beispiel Wasserkastanien, die ungewöhnlich knackig sind. Man mischt sie genau wegen dieser Eigenschaft unter gemahlene oder feingehackte Zutaten in den Teig für Shrimp- oder Fleischbällchen, um gegen die weiche Grundmasse den Kontrast der Knackigkeit zu setzen. Ebensogern gibt man sie in die Füllung von Teigtäschchen, Dampfbrötchen oder Klößchen. Und deshalb sind chinesische Fleisch- oder Krabbenbällchen so angenehm zu kauen - bei der westlichen Küche fehlt dieses Kontrastelement oft. Ähnliches läßt sich von den chinesischen Nudeln sagen, die der italienischen Pasta entsprechen: Aber während man in Italien die Spaghetti meistens mit Tomaten- oder Fleischsauce serviert, kennt man in der Chinesischen Küche weitaus mehr Möglichkeiten. Man brät oder kocht Nudeln mit jeder Art von Fleisch, sogar mit Hummer, Austern, Langusten und Krabben. Auch Nudelgerichte werden stets mit Zutaten unterschiedlichster Textur zubereitet, mit streichholzför-mig zugeschnittenen Bambussprossen, feinen Streifen von rohen Gemüsen (Schnittlauch, Frühlingszwiebeln, Stangensellerie, Chicoree und Gurke, die man vor Gebrauch in einer würzigen Marinade ziehen läßt) oder mit getrockneten Zutaten wie zum Beispiel Pilzen oder Lilienknospen.

Alle diese Zutaten haben einen starken Eigengeschmack, und man verwendet sie nur in sparsamen Mengen. Meist mischt man sie mit ein oder zwei Sorten von gekochtem oder geräuchertem Fleisch, wie beispielsweise in Streifen geschnittenem Hühnerfleisch, geräucherter Ente oder auch Schinken. Da jede einzelne dieser Zutaten über eine ausgeprägte Eigenstruktur verfügt, besonders, wenn sie zuvor auf die eine oder andere Weise gegart oder vorbereitet wurde, ergibt sich aus ihrer Verbindung ein strukturelles Muster, das alle Kontraste in vollendeter Harmonie vereint.

In solchen Fällen gießt man eigentlich nie eine Sauce über das Gericht: Sie könnte diese kunstvolle Komposition verderben. Statt dessen brät oder pfannenrührt man alles rasch in Pflanzenöl und würzt zum Schluß mit einigen Tropfen (bis zu 1 Teelöffel) Sesamöl, die das Ganze verbinden und trotzdem die Eigenheit jeder einzelnen Zutat hervorheben. Dieser kurze Exkurs über die Bedeutung der unterschiedlichen Texturen hat hoffentlich einen kleinen Bereich der Chinesischen Küche erhellt oder wenigstens einige der verschlungenen Wege durch das weite Feld chinesischen Kochens gangbar gemacht. Leider müssen sich ja die meisten Europäer ihr Bild von der Chinesischen Küche an Hand der in Europa ansässigen chinesischen Restaurants machen, die nur selten den Prinzipien so folgen, wie es wünschenswert wäre. Aber glücklicherweise scheint sich doch ganz allmählich die Qualität chinesischen Essens im Westen zu bessern, wenn es auch in manchen Weltgegenden offensichtlich noch lange nicht so weit ist.

(Kenneth Lo: Das große Buch der Chinesischen Kochkunst. Econ. Düsseldorf, 1980)